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Dieser Trieb des genialen Dichters ist ebenfalls ein rein physiologisches, an jedem Menschen wahrzunehmendes Phaenomen in gesteigerter Intensität.

Wir sehen bei jedem Menschen starke Affekte und heftige Gemütsbewegungen einen grossen Einfluss ausüben auf sein gesammtes geistiges Verhalten. Die Folgen des Affekts beschränken sich aber nicht nur auf das psychische Gebiet, sondern teilen sich mittelst des centrifugalen Nervensystems auch anderen Organen des Körpers mit. So sehen wir spastische oder paralytische Zustände in den Blutgefässen, die sich durch Erblassen und Erröten, sowie Kältegefühl auf dem Rücken (kalter Schauer, Gänsehaut) u. s. w. kundthun. Die Herzthätigkeit kann ad maximum gesteigert oder auch vollständig suspendiert werden. Die Secretion der Drüsen, wie z. B. der Schweiss- und Thränendrüsen, wird durch die Stimmungen beeinflusst u. s. w.

Durch diesen Vorgang erfahren die Affekte eine Milderung, die Stimmung wird eine ruhigere und somit der Gesammtzustand ein angenehmerer. Bei einem grossen psychischen Schmerz gewähren die Thränen eine gewisse Erleichterung, und man spricht daher auch von einem „sich ausweinen." Der Zorn wird gemildert durch ein sich auslassen", sei es selbst an einem toten Gegenstande. Hysterische und Kinder schlagen oder treten einen Gegenstand, an dem sie sich gestossen haben. Ein heiterer Affekt sucht sich in Ausgelassenheit „Luft zu machen“, ein komischer Affekt setzt die Lachmuskeln in Bewegung und macht dadurch einer ruhigeren Stimmung Platz.

Dieser Entäusserungstrieb der Affekte und Stimmungen zeigt sich nicht nur in dieser reflektorischen Weise, sondern tritt auch durch ein intensives Bestreben der Mitteilung an andre Personen in die Erscheinung. Hierdurch findet gewissermassen eine Entlastung oder Entspannung statt, wodurch die innere Zufriedenheit gehoben wird. Jeder Mensch hat daher den natürlichen Trieb, seine inneren Gefühle und Empfindungen mitzuteilen. Die Unterdrückung dieses Triebes hat eine innere Spannung, eine Steigerung des Affekts, ein allgemeines Unbehagen zur Folge. Ein Schmerz, der sich

äusserer Verhältnisse wegen nicht zeigen darf, wo die Thränen unterdrückt werden müssen, wird um so schwerer empfunden. Gewaltsam unterdrückter Zorn gährt im Innern um so heftiger. Ein unterdrücktes Lachen ruft Beängstigung und Missbehagen hervor und ist manchen Menschen ganz unmöglich. Jeder weiss, wie schwer es Frauen fällt (und Männern?), ein Geheimnis zu bewahren.

Wenn eine Frau eine Neuigkeit erfahren hat, dann ,,brennt sie vor Begierde", dieselbe weiterzuerzählen. Jemand der an Liebeskummer leidet, wird sich wesentlich erleichtert fühlen, wenn er seine Liebe gestanden hat. Die meisten Menschen fühlen sich erheblich erleichtert, wenn sie jemandem, auf den sie einen Groll haben, gehörig die Meinung sagen" können. Verbrecher werden sich nicht selten einem inneren Triebe zu folge zu einem Vergehen bekennen, das sie vor längerer Zeit verübt haben.

Dieser Trieb, den ich als Entäusserungstrieb bezeichne, ist also etwas durchaus Physiologisches und allen Menschen, allerdings in verschiedenem Masse, eigen.

Beim genialen Dichter, dem, wie wir gesehen haben, so mannigfache Gefühle und Stimmungen innewohnen, dessen reicher Phantasie fortwährend neue Gedanken und Ideen entspringen, wird naturgemäss dieser Trieb um so mehr in die Erscheinung treten. Da aber, wie wir sahen, die Gefühle und Stimmungen des Künstlers sich nicht mit einfachen Worten beschreiben lassen, so muss er sich in seiner Sprache, durch seine Kunst mitteilen.

Wir können daher in der That bei vielen Dichtern die Kunst als ihre natürliche Sprache, die Ausdrucksweise ihrer Empfindungen betrachten. Ebenso wenig wie der vernünftige Mensch spricht, um zu sprechen, ebensowenig erblickt ein derartiger Dichter den Zweck seines Schaffens in dem Kunstwerk als solchem, sondern betrachtet dasselbe lediglich als Mittel des Ausdrucks der in ihm entstandenen Empfindungen, Gefühle und Gedanken. Finden seine Werke keinen Erfolg und keine Anerkennung, so empfindet er darüber den natürlichen Schmerz eines Menschen, der das Bedürfnis hat, sich jemandem mitzuteilen, aber von niemandem verstanden wird. Er

Hirsch, Genie und Entar ung.

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ist aber nicht fähig, an seinen Werken etwas zu ändern oder dieselben in Zukunft anders zu gestalten; so wie sie sind, so mussten sie sein, und so sind sie mit Notwendigkeit entstanden. Er fühlt sich unfähig, etwas Anderes zu schaffen als die künstlerische Verkörperung seiner Vorstellungen und Empfindungen.

Ein solcher Dichter war Göthe, bei dem in der That die Kunst nur ein Mittel des Ausdrucks seiner Empfindungen war. Er äusserte in dichterischer Form nur das, was wirklich in ihm vorging, was er wirklich erlebte, fühlte und empfand. Er selber sagt:,,Alle meine Gedichte sind Gelegenheitsgedichte, sie sind durch die Wirklichkeit angeregt und haben darin Grund und Boden. Von Gedichten, aus der Luft gegriffen, halte ich nichts. Allgemein und poetisch wird ein specieller Fall eben dadurch, dass ihn ein Dichter behandelt. Was ich nicht erlebte und was mir nicht auf den Nägeln brannte und zu schaffen machte, habe ich auch nicht gedichtet und ausgesprochen. Liebesgedichte habe ich nur gemacht, wenn ich liebte."

Ein anderes Mal sagt er: „,Verlangte ich zu meinen Gedichten eine wahre Unterlage und Reflexion, so musste ich in meinen Busen greifen. Und so begann diejenige Richtung, von der ich mein ganzes Leben über nicht abweichen konnte, nämlich dasjenige, was mich erfreute oder quälte oder sonst beschäftigte, in ein Lied, ein Gedicht zu verwandeln und darüber mit mir selbst abzuschliessen, mir sowohl meine Begriffe von den äusseren Dingen zu berichtigen, als mich im Innern deshalb zu beruhigen. Die Gabe hierzu war wohl niemandem nötiger, als mir, den seine Natur immerfort aus einem Extrem in das andere warf. Alles daher, was von mir bekannt geworden, sind nur Bruchstücke einer grossen Konfession."

In Göthe wechselten die verschiedenartigsten Stimmungen miteinander ab, die ihn,,aus einem Extrem in das andere warfen". Ihnen Ausdruck zu verleihen war der Zweck seines künstlerischen Schaffens. Den Stoff zu seinen Kunstwerken lieferte ihm seine schöpferische Phantasie, welche ihrerseits ihr Material der Welt entnahm, in der er lebte, und die er erkannte und durchschaute wie kein anderer.

So hat sich auch mit der Veränderung seiner Lebensverhältnisse der Plan zu,,Wilhelm Meister" oftmals verändert, welchen Umstand er mit den Worten schildert:,,Die Anfänge entsprangen aus einem dunklen Vorgefühl der grossen Wahrheit, dass der Mensch oft etwas versuchen möchte, wozu ihm Anlage von der Natur versagt ist. Und doch ist es möglich, dass alle die falschen Schritte zu einem unschätzbaren Guten hinführen eine Ahnung, die sich in Wilhelm Meister immer mehr entfaltet, aufklärt und bestätigt, ja zuletzt in den klaren Worten ausspricht: du kommst mir vor wie Saul, der Sohn Kis, der ausging, seines Vaters Eselinnen zu nehmen und ein Königreich fand."

Sehr bezeichnend ist auch die folgende Mitteilung: „Ich versammelte hierzu die Elemente, die sich schon ein paar Jahr in mir herumtrieben, ich vergegenwärtigte mir die Fälle, die mich am meisten gedrängt und geängstigt; aber es wollte sich nichts gestalten: es fehlte mir eine Begebenheit, eine Fabel, in welcher sie sich verkörpern konnten, auf einmal erfahre ich die Nachricht von Jerusalem's Tode und unmittelbar nach dem allgemeinen Gerüchte sogleich die genaueste und umständlichste Beschreibung des Vorgangs, nnd in diesem Augenblick war der Plan zu Weiterem gefunden, das ganze schoss von allen Seiten zusammen und ward eine solide Masse, wie das Wasser im Gefäss, das eben auf dem Punkte des Gefrierens steht, durch die geringste Erschütterung sogleich in ein festes Eis verwandelt wird".

Seine Freuden und seine Schmerzen, sein Sehnen und sein Verlangen, seine Lust und sein Leid stellte Göthe in den Helden seiner Dichtungen dar, in ihren Adern floss sein Blut, sie atmeten seinen Odem, sie hatten Leben von seinem Leben.

Dilthey*) sagt: „Der dichterische Vorgang ist in den meisten Schöpfungen Göthes derselbe. Ein Gemütszustand wird in der ganzen äusseren Situation, mit allem, was ihn von Vorstellungen, Zuständen, Gestalten umgiebt, mächtig erlebt, und indem nun dem innerlich bewegten Dichter ein

*) Wilhelm Dilthey, Ueber die Einbildungskraft der Dichter, Zeitschrift für Völkerpsychol. u. Sprachwissensch. X.

äusserer Vorgang entgegentritt, der geeignet ist, Gefäss für diese Herzenserfahrungen zu werden, entsteht in dieser Verschmelzung der Keim einer Dichtung, der alle charakteristischen Züge, die Totalstimmung, die Linien des Ganzen sofort in sich enthält".

Indem Göthe seinen eigenen Empfindungen, seiner eigenen Phantasie künstlerischen Ausdruck verlieh, schilderte er die Empfindungen und Verhältnisse der Allgemeinheit; denn sein Inneres war ja nichts als der Spiegel der Welt, in der er lebte, und gerade darin bestand die Grösse des Dichters, dass er mit seinen Leiden und Freuden unbewusst die Leiden und Freuden der Menschheit schilderte. Göthe selber berührt diesen Punkt, indem er sagt:,,Es ist ein grosser Unterschied, ob der Dichter zum Allgemeinen das Besondere sucht oder im Besonderen das Allgemeine schaut. Aus jener Art entsteht Allegorie, wo das Besondere nur als Beispiel, als Exempel des Allgemeinen gilt, die letzte ist aber eigentlich die Natur der Poesie; sie spricht ein Besonderes aus, ohne ans Allgemeine zu denken oder darauf hinzuweisen. Wer nun dieses Besondere lebendig fasst, erhält zugleich das Allgemeine mit, ohne es gewahr zu werden, oder erst spät."

Diese Entstehungsweise dichterischer Kunstschöpfungen trifft aber durchaus nicht bei allen Dichtern zu. Die Kunst bildet nicht immer das Ausdrucksmittel von Empfindungen und Gefühlen, sondern es giebt Dichter, welche nicht minder Hervorragendes geleistet haben als Göthe, bei denen jedoch die psychologischen Bedingungen wesentlich andere waren, und deren Kunstschöpfungen daher auf gänzlich andere Weise zu stande kamen.

Ein solcher Unterschied besteht gerade zwischen jenen beiden Männern, welche das deutsche Volk mit gerechtem Stolz die grössten Dichter des Jahrhunderts nennt. Wohl kaum sind jemals zwischen zwei Dichtern mehr Vergleiche angestellt und mehr Parallelen gezogen worden, als zwischen Schiller und Göthe. Kunstkritiker pflegen häufig Göthe über Schiller zu stellen und nennen ihn den grösseren der beiden Dichter. Vom psychologischen Standpunkte aus müssen wir aber zu der Ueberzeugung gelangen, dass zwischen ihnen

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