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IX.

Zur Lehre vom Näherrechte, insbesondere von der Erblosung nach gemeinem Rechte.

Von

Dr. Achill Renaud,

Lehrer der Rechte zu Bern.

Dieser Aufsaß macht, wie schon aus der ihm gegebenen Ueberschrift hervorgeht, keinen Anspruch auf Erschöpfung der Lehre vom Näherrechte. Der Zweck des Verfassers war der, einzelne practisch wichtige Grundsäge und Ansichten, welche meist den Schriften älterer Rechtsgelehrten entnommen und heutzutage noch gäng und gäbe sind, zu prüfen, so wie auch einige bisher, wie ihm schien, noch nicht hinlänglich erörterte Punkte einer neuen Untersuchung zu unterwerfen, um so nach Kräften zur Beleuchtung eines Rechtsverhältnisses beizutragen, von welchem man gewiß Thibaut zugeben muß, daß es die germanistische Ungewißheit in vollem Maaße treffe.

S. 1.

Ursprung des Näherrechts.

Die älteren Rechtsgelehrten, und besonders die französischen, finden den Ursprung des Näherrechts in der römischen Geseß= gebung, und berufen sich deshalb auf die const. 14. C. de contrahend. emt. und const. un. C. non licere habitatoribus. Zur Geschichte dieses Instituts führen sie weiter an, daß das Näherrecht der Blutsfreunde durch eine Constitution der Kaiser_Valentinian, Theodosius und Arcadius abrogirt, das Aufhebungsgeseß aber, nämlich die angeführte const. 14. C. (4, 38), in Gallien nicht publicirt, und das abgeschaffte Recht im deutschen Reiche durch eine

Constitution Kaisers Friedrich II. (lib. V. F. 13) wieder eingeführt worden sey.

Diese Ansicht beruhte auf einem gänzlichen Mißverständnisse der angeführten römischen Gesege, welches aber selbst durch eine Verwechslung des Retractsinstituts mit dem Vorkaufsrechte veranlaßt wurde. Die cit. const. 14 nämlich, woraus man die Existenz der Erblosung bei den Römern folgerte, hebt lediglich das wahrscheinlich durch Constantin den Großen den Verwandten und Consorten eines Verkäufers gestattete Vorkaufsrecht auf, währenddem die const. un. C. 11, 56, welche von der Marklosung han deln sollte, den Bürgern einer Metrocomie die Veräußerung ihrer liegenden Güter an Auswärtige verbietet, und dieß bei Strafe der Nichtigkeit 1). In diesen Stellen findet sich also keine Spur des Näherrechts und eben so wenig in andern, die oft deßhalb angegeführt werden, wie die lex 16. D. 42, 5 und Plinius epist. lib. VII. ep. 11.

So haltlos nun die vorgetragene Ansicht ist, so verlangte sie doch deßhalb hier eine Erwähnung, weil sie auf unzweideutige Weise auf die Ausbildung des Retractsinstituts einwirfte, so wie auch vielfache Irrthümer in Theorie und Praris daraus zu erklären sind 2).

Der Retract ist seinem Ursprunge nach ein rein germanisches Institut, welches sich in einem engen Zusammenhange mit dem alten Stammgutssysteme oder dem deutsch-rechtlichen Grundsage von der Unveräußerlichkeit der liegenden Güter ausgebildet hat. In so weit stimmen die Ansichten der Mehrzahl der neuern Juristen überein, währenddem sie im Einzelnen, in der historischen Deduction der Entstehung des Näherrechts aus dem angeführten Principe wieder von einander vielfach abweichen. Da uns indessen die engen Grenzen dieses Aufsages nicht erlauben, die hier geführten Controversen zu erörtern, so begnügen wir uns mit folgenden historischen Bemerkungen, aus welchen mancher praktisch wichtige Saz abzuleiten ist.

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Es ist bekannt, daß im germanischen Rechtsleben der Begriff des Individuums im Begriffe der Familie gleichsam aufgieng. Eine Folge dieser Rechtsansicht war denn, daß die liegenden Güter, die der Einzelne erwarb, nicht allein für ihn, sondern auch für dessen

1) Glück, Comment. XVI. S. 1 79. Note 4.

2) Vgl. z. B. Glück, Comment. XVI. S. 174 u. f. S. 180. Zeitschrift f. deutsches Recht. 8. Bd.

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Familie erworben wurden, von jenem also ohne den Consens dieser Familie nicht veräußert werden konnten, sondern als Stammgüter einem bestimmten Erbgange anheimgefallen waren. Wurde aber eine Liegenschaft wider dieses Verbot von ihrem Eigenthümer veräußert, so war das Geschäft nichtig, und die Erben des Veräußerers konnten sich binnen Jahr und Tag mit Urtheilen unterwinden, d. h. das Gut gegen jedwelchen Innhaber vindiciren 3).

Bei diesem Grundsaße der Unveräußerlichkeit des Grund und Bodens galt jedoch wenigstens Eine Ausnahme allgemein, nämlich für den Fall, wo sich ein Grundeigenthümer in echter Noth befand (famis necessitate coactus, L. Sax. 15. 1) *). Er durfte alsdann sein Gut seinen nächsten Erben zum Verkaufe anbieten, und falls Lettere dasselbe nicht begehrten oder den Kaufpreis in einer bestimmten Zeit nicht bezahlten, ́es an jedwelchen Dritten verkau= fen, ohne daß seine Erben ihr Recht daran ferner geltend machen konnten 5). Diese Beschränkung „für den Fall der echten Noth" fiel allmählig weg, und es konnte nun in der Regel der Eigenthümer seine Liegenschaften frei und gültig verkaufen, wofern er dieselben nur seinen nächsten Erben gehörig zum Vorkaufe ange= boten hatte. War dieß aber unterlassen worden, so konnten die Erben noch immer das verkaufte Gut dem Besiger entwähren 6).

Aus der Geschichte der Entwicklung des Eigenthumsbegriffs fieht man, wie allmählig sich die Idee der Persönlichkeit aus den Fesseln der Familienverbindung emancipirte. Diese Emancipation konnte privatrechtlich nur mit der freien Veräußerungsbefugniß des Eigenthümers an seiner Sache, ohne Verpflichtung des Anbietens an seine Erben zum Vorkaufe, vollständig errungen seyn. Ein wichtiger Schritt hierzu geschicht nun durch die allmählig aufgekommene Unterscheidung zwischen ererbten und wohlerworbenen Gütern. Leh

3) Sachsensp. I. Art. 52. §. 1. Kl. Kaiserrecht 2. 103.

4) Ueber eine andere Ausnahme f. L. Saxon. 15. 2. Capit. I. ann. 819. c. 6. L. Bajuv. I. 1.

5) L. Saxon. Tit. 17. Weisth. bei Grimm, Nechts-Alterth. S. 607: "da ein Mann verarmete, ob er nicht, sich zu retten, sein Gui verkaufen möge, und was desfalls recht sey? Es wurde gefunden, alsdann möge er in seiner Noth mit Wissen feiner Erben ihnen das Gut anbieten; wenn die es nicht begehrten, so möge er es frei verkaufen.“ 6) Jütsches Low Bb. 1. Cap. 34. §. 1 u. 3. Hamb. Stat. v. 1276. 1.6.

tere werden frei veräußerlich, währenddem bei den erstern das Vorkaufsrecht der Erben bestehen bleibt 7). Allein auch hier entwickelt fich bald der Eigenthumsbegriff freier, das für den Eigenthümer lästige Vorkaufsrecht der Erben fällt weg, und die Stammgutseigenschaft verkaufter Erbgüter äußert sich allein noch darin, daß die Erben des Verkäufers diese gegen Erstattung des Kaufpreises an sich ziehen können (Näherrecht, Zugrecht, Netract.) 8).

Man hat in der Geschichte des Retracts (und dieser Punkt ist bisher nicht hinlänglich hervorgehoben worden 9) zwei Perioden zu unterscheiden, in welchen dieses Institut eine verschiedene Bedeutung annimmt. In der Periode seiner Entstehung erscheint nämlich das Näherrecht, wie bereits gezeigt worden, als ein das strenge Stammgutssystem milderndes, untergrabendes, die Entwickelung des Eigenthumsbegriffs in seiner ganzen Freiheit vermittelndes Infti

tut.

Als aber die römischen Rechtsansichten in Deutschland mehr und mehr durchdrangen, bewegliche und unbewegliche Sachen allmählig juristisch gleichgestellt wurden, als der Unterschied zwischen ererbten und gewonnenen Gütern sich nach und nach verwischte, da hätte man, von der bisherigen Bedeutung des Retracts aus zu schließen, sein gänzliches Verschwinden erwarten sollen. Umgekehrt aber bildete sich dieses Institut um so üppiger aus, je mehr die römischen Begriffe Geltung erhielten, indem es nun, dem römischen Rechte entgegen, das alte Familiengutssystem aufrecht zu halten erstrebte, wie es früher dem deutsch-rechtlichen Familienprincipe gegenüber die freie Verkäuflichkeit der Güter vers mittelt hatte. Wie ferner seiner ursprünglichen Bedeutung nach das Näherrecht blos als ein Recht der Blutsfreunde bestanden hatté (Erblosung, Blutzug), so entstehen nun eine Marklosung, ein Nach

7) Lübisch. R. L. 10. 6: "Solches Erbgut mag man ohne der Erben
Erlaubniß nicht alieniren auffer bei äusserster ehehafter Noth u. f. w.a
Iust. Lubicens. bei Weftphalen §. 622.

8) Unrichtig sagt daher Mittermaier, Grunds. 6e Ausg. II. S. 34, daß
da, wo das Gut aus echter Noth verkauft wurde, das Näherrecht
der Erben am ersten vorgekommen sey; wir finden hier nämlich nur
ein Vorkaufsrecht, und keine Spur von einem Näherrechte.
9) J. H. Böhmer, de fundamento dupl. retractus... cap. I. §. 18-20.

barn-, Ganerben-, Gespilde-Recht, ein Feudal-Retract, eine Lehensergänzung, ein adlicher Retract u. s. w., wodurch den Veräußerungen des Grundeigenthums außerhalb gewisser Kreise, und überhaupt einer Zersplitterung desselben auf jede mögliche Weise entgegengetreten wird.

Der Beachtung werth ist es übrigens, wie das dem römischen Rechte feindselige Institut, gestüßt auf mißverstandene römische Gesege, emporblühte. Ich führe hier nur an die schon erwähnte const. un. C. 11, 56, welche auf die Entwicklung der Marklosung einen großen Einfluß hatte 10).

Indem wir uns nun zur Bestimmung der Zeit wenden, in welcher das Institut des Retracts aufgekommen, finden wir dasselbe zum erstenmale auf unzweideutige Weise in der schon angeführten Constitut. Friedrichs II. (lib. V. F. 13) erwähnt. Wenn Müller in seiner Observat. 397 gegen Leyser behauptet, daß die Erblosung von Alters her in Deutschland bekannt gewesen sey, so ist er den Beweis seiner Behauptung schuldig geblieben, indem er in seiner ganzen Argumentation nichts anderes vorbringt, als daß von Alters her die Liegenschaften unveräußerlich gewesen oder doch den nächsten Erben des Verkäufers wenigstens ein Vorkaufsrecht daran zugestanden habe.

Folgt aber hieraus, daß wir uns der Behauptung Leyfer's medit. ad pand. spec. 193 med. 2, der Retract, wenigstens die Erblosung, sey durch Kaiser Friedrich II. inftituirt worden, anschliessen müssen? Hiergegen sprechen gewichtige Gründe. Wir erinnern hier nur daran, wie nach unferer obigen Erörterung dieses Institut gleichsam mit Nothwendigkeit aus der allmähligen Entwicklung des deutsch-rechtlichen Eigenthumsbegriffs entstehen mußte, und bemerken ferner, daß die besagte const., von welcher es nicht bekannt ist, für welchen Theil des deutschen Reichs sie erlassen worden, jedenfalls in Deutschland nie recipirt wurde 11), so daß es sich also bei Annahme der Leyfer'schen Ansicht nicht erklären ließe, wie der Retract in Deutschland gemeinen Rechts geworden, noch weniger aber, wie dieses Institut sich in Frankreich und Spanien, kurz in allen Staaten germanischen Ursprungs gleichzeitig und gleichmäßig entwickelte.

10) Eichhorn, Einleit. in das deutsche Priv.Rt. §. 99.

11) Glück, Comm. XVI, S. 180.

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