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Anfang der Geschichtschreibung.

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Andrerseits kann in einzelnen, für die Volksgeschichte weniger bedeutenden Partieen die Ueberlieferung bis auf einen leßten, armen Rest zusammengeschrumpft sein; nur ein Lied noch, ein Sprüchwort oder ein Ortsname hat sich erhalten und deutet räthselhaft und zur Lösung lockend auf irgend ein verklungenes Ereigniß hin, das ihm den Ursprung gegeben hatte. Hier entstehen nun die freiesten Gebilde der schaffenden Volksphartasie; sie bemächtigt sich solcher letter Spuren und ist bemüht, zu jedem Spruch oder Lied, zu jedem bedeutsamen Namen die vergessene geschichtliche Veranlassung zu liefern. Da kann denn der geschichtliche Thatbestand bis zur Unkenntlichkeit verändert, von den farbigen Blumen und dem Blätterschmuck der Dichtung völlig umranft werden, so daß eine zwar reizvolle, hochpoetische, aber völlig ungeschichtliche Erzählung dasteht, wo in Wirklichkeit ein ganz einfacher Vorgang stattgehabt hatte. Diese phantafievollen Gebilde der mündlichen Ueberlieferung läßt aber der spätere Geschichtschreiber nicht verloren gehen, er schöpft aus dieser Quelle so vertrauensvoll wie aus jeder andern; so sind die Erzählungen vom Stillstand der Sonne (aus einem Siegesliede), von einer Heldenthat Simson's (aus einem Ortsnamen), von der prophetischen Verzückung Saul's (aus einem Sprüchwort) und eine Menge anderer Geschichten aus Personennamen entstanden und in die Geschichtsbücher des Alten Testaments übergegangen, Jos. 10, 12. Richt. 15, 14 ff. 1 Sam. 10, 10 ff. 19, 19 ff.

11. Die Geschichtschreibung.

1. Ihr Anfang. Es liegt in der Natur der Sache, und zeigt sich auch bei allen Völkern, daß der Gedanke und die Lust schriftstellerischer Bearbeitung der Volksgeschichte erst dann entsteht, wenn ein Höhepunkt nationaler Kraftentfaltung und politischer Bedeutung errungen ist. Das auf Schlachtfeldern und an Siegesfesten erstarkte nationale Selbstgefühl, das sich ebenbürtig neben andere Völker stellt,

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Anfang der Geschichtschreibung.

schaut mit neuem Interesse auf die Vergangenheit zurück; dieselbe dient von jest an nicht mehr bloß zur anmuthigen Unterhaltung, zur Anregung der Phantasie und des Gemüths; das patriotische Pathos mischt sich in die Betrachtung ein; die Vergangenheit wird als das Fundament angeschaut, auf dem die Gegenwart fortzubauen hat; die Geschichte wird zur Lehrerin. Deßhalb will man auch Zusammenhang sehen; die in der mündlichen Ueberlieferung vereinzelten Geschichten sollen als Volksgeschichte zusammentreten, und das Ganze ist nun ein würdiger Gegenstand, um die schriftstellerische Anstrengung der Besten herauszufordern. Eine solche Zeit nationalen Aufschwungs und patriotischen Hochgefühls, in welcher die Entstehung eines Geschichtswerkes denkbar ist, findet sich nicht vor David und Salomo; in der Richterzeit fehlte das nationale Einheitsgefühl und unter Moses und Josua die zu schriftstellerischen Unternehmungen nöthige Ruhe. Allerdings besigen wir unzweifelhaft ächte Stücke aus der mosaischen Zeit, nämlich: die zehn Gebote, die oben genannten Lieder (Ex. 15, 21. Num. 21), den Segensspruch Arons über das Volk und über die Bundeslade (Num. 10), so auch aus der Richterzeit das Lied der Debora und die Fabel Jothams; auch mögen einigen Spuren zufolge (Num. 21. Jos. 10. II. Sam 1) Sammlungen solcher Lieder angelegt worden sein; aber für das Gedeihen eigentlicher Geschichtschreibung war der fruchtbare Boden erst durch die glänzenden Thaten und Errungenschaften der davidisch-salomonischen Zeit ge= geben.

Ohne Zweifel bildete der Anbruch dieser neuen Zeit, das Heldenthum Saul's und David's, auch den ersten Gegenstand, an welchem die erwachte schriftstellerische Darstellungskunst sich versuchte. In der That finden wir in den Büchern Samuel aus der Geschichte David's Abschnitte von so frischer Anschaulichkeit und so detaillirter Sach- und Personenkenntniß, daß wir nicht daran zweifeln können, hier Jemanden erzählen zu hören, der jener Zeit

Literarische Beschaffenheit der Geschichtsbücher.

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noch sehr nahe stund. Erst nachdem diesem nächsten Bedürfniß genügt worden war, die Großthaten der jüngsten Vergangenheit durch schriftliche Denkmäler zu ehren, wandte sich der Blick der Geschichtschreiber in frühere Jahrhunderte, zu den Anfängen des Volks zurück. So sind also die ältesten Bestandtheile der Bücher Samuel zugleich die ältesten Erzeugnisse der hebräischen Geschichtschreibung.

2. Die schriftstellerische Beschaffenheit der Ge= schichtsbücher. Mit Ausnahme der zwei kleinen Erzählungen Ruth und Esther besißen wir kein hebräisches Geschichtsbuch in der ursprünglichen Gestalt, die es aus erster Hand erhielt. Wie viel Fleiß und Kunst auch Einer auf die Abfassung eines Geschichtsbuches verwandt haben mochte, man respektirte diese persönliche Arbeit des Einzelnen wenig; das Buch galt als Gemeingut des Volks und erfuhr jede Umgestaltung und Weiterbildung, die im Bedürfniß einer spätern Zeit zu liegen schien. Daß man sich erlaubte, in ein älteres Geschichtswerk Reflerionen und andere kleinere und größere Stücke einzuschieben, war noch das Geringste, die Freiheit ging viel weiter. Wenn ein Geschichtsabschnitt im Laufe der Zeit verschiedene selbständige Bearbeitungen erfahren hatte, so mochten die Anschauungen der einzelnen Schriftsteller noch so weit auseinandergehen und der Widersprüche in den einzelnen Berichten noch so viele sein, die Bücher wurden später gleichwohl in eins verschmolzen; von einander abweichende Darstellungen ein und desselben Ereignisses wurden entweder einfach neben einander gestellt oder in einander verschlungen und mit oft sehr geringer Sorgfalt die Fugen durch kurze Uebergänge verdeckt und die gar zu auffallenden Widersprüche ausgeglichen.

So läßt sich nicht verkennen, daß über die Geschichtsbücher viele Hände gegangen sind; sie sind künstliche Zusammensetzungen, Compilationen früherer Werke, und oft sind auch diese frühern Werke noch nicht die ursprüng'ichen, sondern bereits ueberarbeitungen und Verknüpfungen von solchen. Aufgabe der wissenschaftlichen Untersuchung ist es

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Religiöse Geschichtschreibung.

nun, diese zusammengeseßten Geschichtswerke wieder in ihre ursprünglichen Bestandtheile auseinander zu legen, um so unterscheiden zu können, zu welcher Zeit eine gewisse Geschichte in dieser, zu welcher sie in jener Gestalt erzählt worden sei. Dieses mühsame Geschäft wird durch jenen oben erwähnten Umstand erleichtert, daß die Geschichtszusammenseßer ihre Kunst oft sehr äußerlich betrieben und weder die Fugen gehörig überdeckten noch die Verschiedenheiten genügend ausglichen. Mit dieser schriftstellerischen Beschaffenheit der alttestamentlichen Geschichtsbücher hängt endlich auch ihre durchgängige Namenlosigkeit zusammen, indem uns bei keinem einzigen die Person des Verfassers überliefert ist.

3. Die höheren Gesichtspunkte. Vor Allem aus unterscheidet sich die Geschichtschreibung des Alten Testaments von jeder andern Geschichtsliteratur durch jene Eigenthümlichkeit, in welcher überhaupt die weltgeschichtliche Bedeutung des jüdischen Volkes besteht. Neben ganz anders begabte Kulturvölker gestellt, hatte das jüdische Volk die Aufgabe, die religiöse Wahrheit zu finden, den Willen und die Weltregierung des Einen Gottes zu erkennen und damit den ewigen Bedürfnissen des Menschenherzens ein Genüge zu thun. Hatte der Grieche die Aufgabe, die Gebiete der Kunst und Philosophie anzubauen, sollte der Römer im Rechtsund Staatsleben die Fundamente legen, so war das jüdische Volk das Volk der Religion. Dieses Volkes eigenthümliche Begabung und Bemühung war es deßhalb auch in der Geschichtschreibung, an jedes wichtigere Ereigniß ausschließlich mit dem Lichte des göttlichen Rathschlusses heranzutreten, so daß nicht nur aller blinde Zufall der Geschichte, sondern auch alle bewußte und freie That des Menschen ausgeschlossen war und Gott allein als terjenige erschien, der Etwas dachte, wollte und that. So finden wir im Leben Noahs, Abrahams, Moses, Gideons, Samuels und Anderer eine Reihe von Erzählungen, in welchen der Mensch nur Werkzeug des göttlichen Willens ist, jeder menschliche Entschluß seinen Grund

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Religiöse Geschichtschreibung.

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nicht in der eigenen Ueberlegung, sondern in dem vorausgegangenen Gott sprach zu ihm“ hat, und jedes Ergebniß des geschichtlichen Verlaufes von vornherein durch die göttliche Absicht festgestellt ist.

Diese Geschichtsauffassung tritt namentlich in folgenden drei Beziehungen an den Tag:

a. Das nationale Dasein Israel's, seine Sondereristenz unter den übrigen Völkern, sein Wohnen in Kanaan, seine Wohlfahrt und zunehmende Blüthe, weit entfernt, das Resultat der natürlichen, geschichtlichen Entwicklung oder der Lohn eigener Anstrengungen, die That einzelner Helden und Könige zu sein, ist vielmehr die freie Gabe Gottes, der um Abraham's willen dieses Volk sich auserwählt hat und, wie er es bisher beschüßt und gesegnet, es auch künftig zu immer größerer Macht und Herrlichkeit führen wird.

b. Ebensowenig kann religions geschichtlich von menschlichem Ringen nach Wahrheit, von menschlichen Geistesthaten die Rede sein; ohne Vermittlung des menschlichen Geisteslebens offenbart sich Gott äußerlich dem Gehör, dem Gesicht und spricht seinen Willen aus, thut sein Wesen kund und ordnet die Art und Weise, wie er verehrt sein will. Weil die Offenbarung nur Gottes Sache ist, so ändert der Unterschied der Zeiten daran nichts, als Derselbe erscheint er vor Abraham, vor Moses, vor Samuel und den Propheten. Was der Erzähler als die wahre Religion besigt, das schaut er als das anfänglich von Gott gegebene an, das sich auch seither unter allen Frommen unwandelbar erhalten habe. (Höchstens im Namen Gottes macht der eine Erzähler den Unterschied, daß Gott den Erzvätern als El Schaddai,,,der Gewaltige," von Moses an als Jehova erschienen sei (2. Mos. 6, 3), während ein anderer auch den Namen Jehova schon von Seth an geoffenbart sein läßt (1. Mos. 4, 26).

c. Auch den Wechsel von Glück und Unglück, von nationaler Kraft und Schwäche, von fruchtbaren und

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