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Tusky antwortete nicht. Ein Schwarm von schreienden Menschen drängte sich heran; man wollte wissen, was der Schulmeister zu dem Plan sage, die Reichen leben zu lassen, aber die Kinder der Armen an die Reichen zu vertheilen? Der Schulmeister sei ein gar gescheidter Mann! Der Schulmeister soll leben! Hurrah hoch!

Leo kehrte nicht wieder in das Pfarrhaus zurück. Das noch nie gesehene Schauspiel einer aufgeregten Volksmenge, so widerlich es ihm auch in seinen Einzelnheiten sein mochte, übte eine dämonische Anziehungskraft auf ihn aus. Er sah hier leibhaftig die Gestalten aus den Bauernkriegen vor sich, mit denen sich seine Phantasie so viel beschäftigt hatte: den rohen Ackerknecht, den verkommenen Häusler, den flachshaarigen Dorfbuben, der auf den herbstlichen Treibjagden mit der Klapper über die kahlen Felder keucht; den dicken Wirth, der im Interesse seines Ausschanks für Freiheit und Gleichheit ist, aber noch mehr dafür, daß jedes Glas Bier der Ordnung gemäß bezahlt werde; den Bandjuden, der auch auf Pfänder leiht und mißtrauisch aus der Ferne dem Lärm zuschaut und inmitten dieses bunten Treibens die Gestalt seines Freundes, des Agitators, des Einbläsers, der all' diese Menschen, von denen Keiner weiß, was er will, ohne daß fie es merken, nach dem Ziele hinlenkt, das er allein deut lich sieht.

Seine Augen hingen fast unausgefeßt an dieser merkwürdigen Gestalt, die er so genau zu kennen glaubte und die ihm heute in einem ganz neuen Lichte erschien. Wie hätte er je gedacht, daß Tusky, auf dessen großen, harten Zügen sonst der Stempel tiesinnerlichsten Ernstes, ja einer fast frankhaften Schwermuth geprägt war, dessen dünne, für gewöhnlich festgeschlossene Lippen sich höchstens zu einem grimmigen Lächeln verzogen - lachen und scherzen könne, und anstoßen könne mit Jedem, der sich an ihn drängte! Freilich entging Leo auch nicht, daß diese laute Fröhlichkeit keineswegs aus dem Herzen kam; ja er bemerkte, wie des

Mannes ausdrucksvolles Gesicht in Augenblicken, wo er sich unbeachtet glaubte, plöglich wie in Nacht getaucht war.

So erschien es ihm wenigstens, als Tusky am Nachmittage an ihn herantrat und sagte:

Du mußt mir einen Gefallen thun. Ich muß die Tannenstädter zum Abend hier haben; ich habe sie mit Willen so lange oben gelassen, weil ich die alte Eifersucht zwischen ihnen und den Tuchheimern fürchtete; jezt hat dies nichts mehr zu sagen. Bei Nacht sind alle Kazen grau. Du brauchst nicht bis nach Tannenstädt zu gehen; Eve wartet an der Waldecke vor der Steinhalde und trägt die Botschaft weiter. Du kommst zurück und bringst mir Bescheid.

Ich höre, Ihr wollt auf das Schloß ziehen? Ist das wahr?

Sie sprechen davon, ich weiß nicht, ich glaube nicht. Aber Du mußt eilen, Leo, sonst kann es uns nichts mehr helfen.

Es war kaum vier Uhr, als Leo aus dem Dorfe heraus in die Felder gelangte, die sich mälig bis zu den waldbedeckten Stufen des Gebirges erhoben, aber der Winterabend begann bereits hereinzubrechen. Der Himmel war mit schwe rem, grauem Gewölk bedeckt; seltsam stachen die weißen Schneeflächen der Hügel von diesem dunklen Hintergrunde ab. Ein falter Wind wehte vom Untergang her und raschelte in den dürren Blättern der Hecken an der Wegseite. Hie und da auf dem Schnee saßen ein paar Krähen, andere zogen vom Walde durch die trübe Luft nach dem Dorfe. Das schienen die einzigen lebenden Wesen in dieser Dede.

Raftlos, mit pochendem Herzen eilte Leo hügelauf dem Walde zu. Es hatte sich seiner Seele der Gedanke bes mächtigt, daß von der Schnelligkeit, mit welcher er den ihm gewordenen Auftrag erfülle, der gute oder schlimme Ausgang des Aufstandes abhange, und dennoch wußte er nicht, ob er einen guten oder einen schlimmen Ausgang mehr fürchten

solle. Auf jeden Fall aber war jetzt der Würfel geworfen; der Schritt, der ihn auf immer und immer von den Menschen trennte, auf welche das Schicksal ihn angewiesen hatte, war gethan. In das Pastorhaus, in das Försterhaus, in das Schloß würde er nie wieder seinen Fuß seßen - aber wohin, wohin würde er sich dann wenden? Gab es noch ein Dach, das ihn schüßte? Ihn, der jedes Band, das sonst den Menschen heilig ist, zerrissen hatte? War für ihn nicht die Welt eine kahle, obdachlose Wüste, wie sie hier in grimmiger Unnahbarkeit vor seinen Blicken lag?

Weiter, weiter durch den tiefen Schnee des Hohlweges hinein in den sausenden, ächzenden Wald! An der Stelle vorbei, wo er mit Walter vor ein paar Monaten an dem schönen Sommerabend unter der Buche, die jest ihre kahlen Aeste gegen den Himmel streckte, im Moose gelegen und Walter ihm das Gedicht vorgelesen hatte. Er hatte nie wieder an diese Begegnung gedacht; nie daran, wem wohl das Gedicht gegolten haben möchte. Jetzt wußte er mit einemmale, daß es Niemand anders als Amélie gewesen sein konnte. Es war in dem Gedichte so viel von sansten braunen Augen die Rede gewesen: wer hatte so sanfte braune Augen wie Amélie? Es war ihm das aufgefallen, als er vorgestern auf dem Schlosse gewesen war. Die ganze Familie, mit Ausnahme des Freiherrn, hatte an dem runden Tische unter der großen Hängelampe gesessen Fräulein Charlotte, Miß Jones, die beiden Mädchen Alle eifrig mit Weihnachtsgeschenken für arme Kinder beschäftigt. Es war ein friedliches, schönes Bild gewesen, und das Lachen und das Geplauder der Mädchen und dazwischen Miß Jones' sonorer Alt und Fräulein Charlotten's milde Stimme!

Silvia hatte ein großes Stück blauen Zeuges, bevor es zerschnitten wurde, sich um die Schultern geschlungen und die Worte der Kassandra zu declamiren begonnen. Sie hatte sehr schön ausgesehen mit ihren wallenden Haaren und den leuchtenden blauen Augen. Es war noch nicht zwei Jahre her, da war sie ein Kind gewesen, damals, als sie im Bache

unter den Wasserfällen sich gebadet hatte ein wildes, übermüthiges, phantastisches Ding. Er hatte sie damals ein paar Wochen lang sehr lieb gehabt und auch Gedichte auf sie gemacht, wie jezt Walter auf Amélie's braune Augen.

War das schon der Ausgang des Waldes? Unmöglich. Wie konnte er in der kurzen Zeit den weiten Weg zurückgelegt haben? Und doch mußte es sein.

Er mäßigte seinen Schritt und trocknete sich den Schweiß ab, der ihm trok der eisigen Luft von der glühenden Stirn rann. Auf der Steinhalde hinter dem Walde sollte er Eve treffen. Er hatte sie nicht gesehen, seitdem sie sich an einem Abend im Spätherbst kurz nach der ersten Begegnung unter sein Fenster geschlichen und ihn erst leise und dann lauter gerufen, und als er sie bat, wegs zugehen, ihm gedroht und ihn verwünscht hatte. Wie würde sie heute sein?

in Tannenstädt

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Dem Jüngling schlug das Herz. Er wäre in diesem Augenblicke lieber einem wilden Thiere begegnet, als dem jungen Mädchen mit den grauen, stechenden Augen. Aber hier war keine Wahl. Er hatte die letzten einzelnstehenden Bäume des Waldes erreicht, und dort ein paar hundert Schritte weiter die kahle, schneebedeckte Halde hinauf — auf einem Stein saß eine weibliche Gestalt es mußte die Eve sein.

Sie hatte den Kopf in beide Hände gestüßt und regte sich nicht, selbst als Leo in ihre unmittelbare Nähe gekommen war. Was man von ihrem Gesichte, das die Hände fast bedeckten, sehen konnte, war bläulich bleich, wie die Hände. Leo faßte ein jäher Schrecken. Eilends trat er auf sie zu und legte seine Hand auf ihre Schulter.

Eve, Eve!

Die Hände sanken von dem Gesicht schwer herab auf die Kniee; das bleiche Gesicht wendete sich; die Lider mit den langen Wimpern hoben sich langsam, und die gerötheten Augen starrten ihn an, ausdruckslos, ohne eine Spur von Erkennung, ja nur von seelischem Leben.

Aber in den starren Augen zuckte es wie schwaches Wetterleuchten; die bleichen Wangen begannen sich zu röthen; sie strich sich langsam mit der Hand über die Stirn, und plöglich sprang sie von dem Steine empor und schwankte auf Leo zu, der, von dem unheimlichen Ausdruck in dem Gefichte des Mädchens betroffen, zurücktaumelte.

Eve blieb stehen und brach in ein gellendes Gelächter aus. Sie hat er geschickt, rief sie, Sie!

Ja, sagte Leo, und ich soll

Weiß es schon! sagte Eve; die Tannenstädter sollen kommen. Und dann geht's auf's Schloß! Ich will auch mit; ich will einmal in einem seidenen Bette schlafen. In der Stube mit der Todten kann ich so heute Nacht nicht bleiben.

Mit der Todten? rief Leo.

Nun ja, sagte Eve; die Alte ist heute Morgen gestor= ben, oder heute Nacht, ich weiß nicht; heute Morgen war fie schon kalt.

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weiß Ihr Bruder es?

Ja, natürlich weiß er es, erwiederte Eve; ich hab' ihm Botschaft geschickt.

Unmöglich, rief Leo; er hat mir kein Wort davon gesagt; er er hat die Botschaft nicht erhalten.

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Eve lachte.

Nicht erhalten? sagte sie höhnisch; warum denn nicht? Hat er mir doch durch denselben Boten sagen lassen, es wäre gut, und ich sollte von Mittag an hier warten, bis er heraufschickte. Seit vier Stunden warte ich hier und hungere und friere. Was kümmert er sich um irgend einen Menschen, wenn er nur seinen Willen hat. Und wer ihm seinen Willen nicht thut, der mag sich in Acht nehmen Sie haben sich in Acht genommen, schöner junger Herr! Sie find mir aus dem Wege gegangen, als wenn ich ein Molch oder eine Natter wäre. Aber dafür haffe ich Sie auch; ja, ich haffe Sie, und ich hasse ihn! O, wie ich ihn hasse!

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