A. DIE SCHÖPFUNG I. DAS BABYLONISCHE WELTSCHÖPFUNGS Der GEDICHT er Zweck dieser in Babylon entstandenen Dichtung ist es, den Stadtgott von Babylon, Marduk, als den mächtigsten der Götter und den Schöpfer der sichtbaren Welt zu verherrlichen. Wir kennen das Gedicht nur aus Abschriften späterer Zeit, von denen die ältesten der Bibliothek König Assurbanipals, des Sardanapal der Griechen, entstammen (668–626 v. Chr.); doch läßt sich nicht in Abrede stellen, daß das Lied bedeutend älter und höchstwahrscheinlich in der Blütezeit der semitisch-babylonischen Kultur, der Zeit der Dynastie Hammurapis (um 2000 v. Chr.), verfaßt ist. Damals war es dem unbedeutenden Reich von Babylon gelungen, die rivalisierenden Nachbarstädte zu unterdrücken und ein geeinigtes babylonisches Reich zu schaffen, in dem der Glanz Marduks, des Gottes der Hauptstadt, bald alle anderen Götter überstrahlen mußte. Der Dichter, dessen Name uns unbekannt ist, hat aber auch ältere Bearbeitungen der Sage benutzen können, die er unter allerlei Änderungen seinem Werke einverleibte. Weltschöpfungssagen kannte man wohl in jeder bedeutenderen Stadt Babyloniens (und Assyriens), und stets spielte der Stadtgott die Heldenrolle; so können wir erkennen, daß unser Dichter Weltschöpfungssagen von Uruk, der Stätte des Anu-Kultes, von Eridu, der Stätte des Ea Kultes, und von Nippur, der Stätte des Enlil-Kultes, verwertete, aber in der Weise umgestaltete, daß alle Strahlen der älteren Dichtung auf Marduk, den Helden unseres Gedichtes, geleitet wurden. Neue Gedanken bringt im wesentlichen nur der Schluß des Gedichtes, der Lobpreis Marduks, der aber seinem dichterischen Werte nach gegen die vorhergehenden Teile erheblich abfällt. Wie alle babylonischen Weltschöpfungssagen setzt auch die unsrige eine Urzeit voraus, in der die Welt ein ungeordnetes, finsteres Chaos war: alles war verdeckt von den beiden noch nicht getrennten Urstoffen, dem Meerwasser (hier als Weib Tiâmat perso nifiziert) und dem Süßwasser (Apsû, hier als Gatte Tiâmats personifiziert). Als dritter Faktor kommt noch das als selbständig ges dachte Gestaltungsprinzip hinzu, das im Gedicht als Mummu, d. i. Form, die Rolle eines Boten Apsûs spielt. Die himmlischen Götter galten als Kinder Apsûs und Tiâmats, ohne daß man sich über die Art ihrer Entstehung aus den genannten Chaosmächten irgendwelche bestimmte Vorstellungen gemacht zu haben scheint. Nach einem Kampfe zwischen den Mächten der Finsternis und den himmlischen lichten Gottheiten wird die sichtbare Welt von einem der letzteren (hier: Marduk) erschaffen oder vielmehr im einzelnen ausgebaut. Das babylonische Weltschöpfungsgedicht ist in sieben Tafeln eingeteilt, deren Inhalt wir zur Orientierung des Lesers hier in Kürze zusammenfassen: I. 1-20. Das Chaos und die Entstehung der Götter. Die Genealogie möge der folgende Stammbaum veranschaulichen: 21-56. Die durch die neue Weltenordnung gestörten Chaos mächte beschließen, die himmlischen Götter, ihre Kinder, zu vers nichten. 57-80. Ea besiegt Apsû und Mummu. 81-142. Die noch nicht besiegte Tiâmat rüstet ein neues Heer aus, an dessen Spitze sie eine Unterweltsgottheit, Kingu, stellt. II. 1-48. Ea erfährt Tiâmats neue Pläne und berichtet diese sei nem Vater Anschar. 49-82. Ea und Anu wagen es nicht, mit Tiâmat zu kämpfen. 83-143. Ea gewinnt seinen Sohn Marduk als Kämpfer für die bedrängten Götter. Marduk erklärt sich zum Kampfe bereit, falls die Götter ihn als ihren König anerkennen. III. Die himmlischen Götter werden zusammenberufen, um über Marduks Anerbieten und Forderung zu beraten. Sie übertragen Marduk die Herrschaft. IV. Marduks Kampf mit Tiâmat; er besiegt Tiâmat, tötet sie und beginnt sein Schöpferwerk mit dem Bau des Himmels. V. Marduk schmückt den Himmel mit Gestirnen. VI. Erschaffung des Menschen. VII. Marduk erhält fünfzig Ehrennamen. Ein Epilog (Z. 125 ff.) fordert auf, Marduks Taten ewiglich zu preisen. 5 10 ERSTE TAFEL Als droben der Himmel noch nicht benannt war, Die Feste unten einen Namen nicht hatte, Als Apsû, der Uranfängliche, aller Erzeuger, Mit ihren Wassern in eins sich mischten, Als von allen Göttern Noch keiner benannt, noch Marsch sich fand, kein einziger lebte, kein Schicksal bestimmt war, Da wurden gebildet die Götter in ihrer1 Mitte; Es wuchsen die Zeiten und wurden lang: Anschar und Kischar Viel wurden der Tage, 15 entstanden noch mächt'ger. die Jahre sich mehrten: Als Erstling macht Anschar den Anu sich ähnlich; ein Abbild, Nudimmud2. Nicht gab's seinesgleichen in der Schar seiner Brüder. 20 1 Der Z. 3, 4 genannten Urmächte. = Ea. 25 30 35 40 45 Da einigten sich die göttlichen Brüder, In ständiger Trauer war Apsû befangen, Und Apsû, der Ursprung der großen Götter, So gingen sie hin, und vor Tiâmat sich neigend, 3 ,,Für mich ist ihr Treiben grenzenlos lästig, Tags find' ich nicht Rast und nachts keine Ruhe! Daß stille es werde und Ruhe wir finden!" Als diese Worte Tiâmat hörte, Ward sie voll Grimmes und schrie gewaltig; Wa Was uns zu tun bleibt? Verderben zu stiften! daß ewig wir herrschen!“ Ein Zeichen von Schmerz und Wut 2 Die himmlischen Götter waren ja |