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Niemand sich recht entschließen kann, einen Plan zur Neuordnung der Dinge auf der Trümmerstätte vorzulegen. Die Vertheilung der türkischen Erbmasse ist von einer so unermeßlichen Tragweite für die Welt, die Erschütterungen, die entstehen müssen, wenn es zwischen den Erben zum Konflikt kommt, so unabsehbar, daß man sich scheut, auch nur die Möglichkeiten, die dabei auftauchen, zu diskutiren. Dennoch muß es geschehen. Was kann es helfen, die Entscheidung immer weiter hinauszuschieben? Der Moment, wo sie endlich getroffen werden muß, steht nahe bevor. Schaffe man sich zunächst wenigstens klare Gedanken darüber, was etwa als Ziel zu erstreben wäre.

Man wird dabei am Besten thun, nicht zunächst einen konkreten Plan zu entwerfen, was die Diplomatie von heute auf morgen zu thun hat, sondern sich erst einmal das lezte Ziel in allgemeinen Umrissen zu entwerfen. Wie ein solches lehtes Ziel auf die Politik des Momentes einzuwirken hat, ist eine andere Frage. Der Diplomat mag geneigt sein, das Aufstellen solcher allgemeinen Ziele überhaupt zu verwerfen. Sie sind-ihm Phantastereien, Träumereien. Ich habe nichts dagegen. Ich will dieser Betrachtung selber den Titel „Politische Träumereien" geben. Wer tiefer schaut, weiß, daß auch solche Träumereien ihr Recht haben in der Weltgeschichte. In dem politischen Testament, in dem Friedrich der Große vor dem Siebenjährigen Kriege seine Auffassung von den Aufgaben und dem Wesen des preußischen Staates niederlegte, findet sich auch ein Kapitel, das die Ueberschrift trägt: Politische Träumereien. Und die Historiker streiten darüber, wieviel Realität sie diesen Träumen zuzuschreiben hätten. Auch vom deutschen Einheitstraum hat man gesprochen. Es war wirklich nur ein Traum, in dem Schlaf, dem Deutschland nach der Anstrengung des wilden Kriegestanzes der Freiheitskriege verfiel. Aber was ist aus diesem Traum geworden? Wäre die Realpolitik des großen Staatsmannes von 1866 und 1870 denkbar, wenn ihr nicht jener Traum vorangegangen wäre?

Scheuen wir uns also nicht, einmal etwas über die orientalische Frage und das Ende des todtkranken Mannes zu träumen.

Wem soll Kleinasien zufallen? Soll man aus dem türkischen Besißthum einen armenischen Kleinstaat auszuscheiden suchen nach der Art Bulgariens? Wir wollen diese oder ähnliche Möglichkeiten. garnicht weiter erörtern. Sie fallen alle vor dem einen Sah: Rußland wird sich die Herrschaft über Kleinasien von Niemandem

nehmen lassen. Die griechischen Küstenstädte und die griechischen Inseln Lesbos, Chios, Rhodos sind von Kleinasien nicht zu trennen. Mit Kleinasien hat Rußland auch die östlichen Ufer des Bosporus und Hellespont.

Der russische Chauvinismus verlangt auch die Herrschaft über die Balkanhalbinsel. Er verlangt jie, um den Bosporus und Hellespont vollständig zu beherrschen; er verlangt sie, weil die Bewohner der Balkanhalbinsel größtentheils Slaven und Stammes brüder der Russen sind. Er verlangt sie, weil eben diese Völker auch derselben Kirche wie Rußland angehören.

Diese Forderung kann Europa nimmermehr zugestehen. Eine direkte, oder auch bloß eine indirekte Herrschaft Rußlands über die Balkanhalbinsel würde Oesterreich-Ungarn rings umklammern, und es in dieser Umarmung ersticken. Oesterreich-Ungarn würde es darüber auf einen Krieg ankommen lassen und in diesem Kriege würde ihm Deutschland zur Seite stehen. Nicht weil Deutschland selbst auf der Balkanhalbinsel Interessen zu vertheidigen hätte, aber weil Deutschland unmöglich zusehen könnte, daß Oesterreich etwa von Rußland überrannt und mit der Balkanhalbinsel auch noch Ungarn und Galizien der russischen Herrschaft verfallen sollten. Ganz richtig hat daher der General Skobeleff einmal gesagt: „Unser Weg nach Konstantinopel führt über Berlin." Aehnlich wie Oesterreich-Ungarn und Deutschland sind auch England und Italien daran interessirt, daß Rußland sich nicht die Balkanhalbinsel unterwerfe. Einen solchen Widerstand wird Rußland niemals, auch nicht mit Hülfe Frankreichs, im Stande sein zu überwinden. Wenn es ihn überwände, hätte es in demselben Ringen auch schon die Weltherrschaft erworben. Und aus diesem Grunde würde schwerlich selbst das dienstbereite Frankreich einen solchen Kampf bis zu Ende an Rußlands Seite ausfechten.

Darf Rußland selber die Herrschaft über die Balkanhalbinsel nicht ausüben, so darf man ihm auf der andern Seite auch nicht zumuthen, sie an seinen Rivalen, an Oesterreich-Ungarn zu überlassen. Der habsburgische Doppelstaat strebt auch garnicht nach dieser Erweiterung. Die natürlichste Lösung der orientalischen Frage auf der Balkanhalbinsel ist also, den Rest des türkischen Gebietes zwischen den bestehenden Staaten aufzutheilen oder viel= leicht in Albanien auch noch einen neuen Kleinstaat zu schaffen. Wer aber soll Konstantinopel haben? Konstantinopel liegt auf einer Halbinsel, die sich leicht von dem übrigen Festland abtrennen läßt.

Ganz ebenso wird der Hellespont durch eine leicht vom Festlande zu trennende Halbinsel mit der Stadt Gallipoli gebildet. Diese beiden Halbinseln gehören fast ebensogut zu Asien wie zu Europa, so gut, daß man schon oft die Frage aufgeworfen hat, wo ist hier eigentlich der Punkt, an dem die beiden Welttheile sich scheiden? Konstantinopel also und Gallipoli mit seiner Halbinsel können zu Asien geschlagen und Rußland überwiesen werden. In die Gruppe der Balkankleinstaaten ist Konstantinopel ohnehin nicht einzufügen. Man kann es doch nicht den Bulgaren geben? Rußland aber, das nunmehr den Bosporus und den Hellespont auf beiden Ufern beherrscht, hat den Ausgang aus dem Schwarzen Meer, dessen es als Großmacht bedarf, ohne die Herrschaft über die ganze Balkanhalbinsel, durch die es Europa bedrohen würde. Gewiß würde Rußland durch den Besit von Kleinasien und Konstantinopel stets einen starken Einfluß auf die Politik der Balkanländer ausüben. Aber darauf hat es einen legitimen Anspruch. Was Europa nicht dulden darf, ist bloß die Umflammerung Desterreich-Ungarns. Aufgabe der österreich-ungarischen Politik wird es sein, daß die Balkanstaaten sich nicht freiwillig in die russische Abhängigkeit begeben, und diese Aufgabe wird nicht so gar schwer sein, da man immer leicht den einen Balkanstaat gegen den anderen ausspielen und sie dadurch in Schach halten kann.

Bis hierher wird ein russischer Leser dem Traum wohl mit einer gewissen Zufriedenheit gefolgt sein. Auch selbständige griechisch-katholische Slaven-Staaten auf dem Boden ehemaliger Türkenherrschaft thun einem russischen Herzen wohl, und Kleinasien mit den griechischen Inseln, Konstantinopel und Gallipoli, Bosporus und Hellespont sind Erwerbungen, wie sie sich der russische Politiker nicht schöner und großartiger wünschen kann.

Bedingung für einen solchen Erwerb aber ist, daß die andern Großmächte in entsprechender Weise ausgestattet werden. Das bestehende Machtverhältniß darf nicht verschoben werden. Jene Erwerbungen für Rußland ohne völlig ausreichende Aequivalente für die anderen Großmächte würden gerade herausgesprochen eine Vorstufe für eine zukünftige russische Weltherrschaft bedeuten. Es soll ja viele Russen geben, die davon schwärmen. Wir sprechen hier nur mit denen, die Europa nicht zumuthen, daß es sich ohne Schwertstreich, denn so denken wir uns ja die Erbtheilung, solchen Maßnahmen unterwirft. Wo sind die Kompensationen zu suchen? Daß OesterreichUngarn auf der Balkanhalbinsel entschädigt werde, haben wir schon

zurückgewiesen. Eine der russischen Acquisition entsprechende Entschädigung für Desterreich-Ungarn würde nicht bloß in der Annexion des ganzen noch türkischen Restes der Balkanhalbinsel bestehen müssen, sondern es müßten die heute bestehenden Balkanstaaten noch hinzugethan werden. Das kann Rußland nicht zugeben.

Die Entschädigung Desterreich-Ungarns kann nur in Polen gesucht werden. Polen ist für die habsburgische Monarchie ein viel passenderer Erwerb als irgend ein Stück der Balkanhalbinsel. Diese Völker hier im Süden sind griechisch-katholisch und würden sich deshalb dem neuen Staatenverbande nur sehr ungern einfügen lassen. Die Polen aber sind katholisch, und würden. sich ohne Weiteres und mit Freuden zu einer neuen Einheit mit Galizien verschmelzen lassen, so daß man später nicht mehr von einer habsburgischen Doppel- sondern Tripel-Monarchie zu sprechen hätte. Rußland aber verliert an Polen sehr wenig. Häufig ist in Rußland selbst früher die Frage erörtert worden, ob man nicht freiwillig auf dieses Gebiet, das nur mit der größten Gewalt und Aufbietung großer militärischer Macht bei Rußland festzuhalten ist, verzichten solle.

Aber die militärischen Folgen dieser Grenzverschiebung? Ehe wir auf sie eingehen, fahren wir erst fort zu fragen: wo soll die Entschädigung für Deutschland liegen? Soll Deutschland sich in Syrien, Arabien oder Tripolis festsehen? Davon kann nicht die Rede sein. Die Entschädigung Deutschlands kann ebenfalls nur auf dem jezigen Gebiete Rußlands gesucht werden. Es kann nichts anderes sein, als Esthland, Livland, Kurland und ein verbindender Landstrich an Kowno vorbei zwischen Kurland und Ostpreußen. Diese Lande sind deutsch. Zwar nur die Minorität der Bewohner ist nach Abstammung und Sprache germanisch, die große Masse der Bevölkerung lettisch und esthnisch. Aber die Kultur des Landes im Ganzen ist deutsch. Die gemeinsame evangelische Religion schließt die verschiedenen Rassen zusammen. Die obere maßgebende Schicht ist deutsch. Alles was aus dem Esthenthum und Lettenthum emporsteigt, wird damit auch deutsch. Als Besißthum des deutschen Ordens ist das Land, wie Otto Harnack in diesen „Jahrbüchern“ nachgewiesen hat, auch einmal zum Deutschen Reich gerechnet worden. Alle Mühe, die sich jezt die Russen geben, das Deutschthum hier zu entwurzeln und die Bevölkerung allmählich in das Russenthum hinüberzuführen, werden vergeblich sein. Als die Dänen einmal versuchten, Schleswig zu danisiren, erhob sich das

gesammte deutsche Nationalgefühl dagegen in zornigem Aufwallen. Und doch handelte es sich hier nur um einen ganz geringen Bruchtheil unseres Volkes, viel kleiner als das, was uns jetzt in den Baltischen Provinzen abgegliedert werden soll. Schleswig hat auch niemals zum Deutschen Reich gehört. Die deutschen Schleswiger, ohnehin gemischt mit Dänen, sollten übertreten zum Dänenthum, das nach Kultur, Sitte und Religion nahe verwandt, ebenfalls germanisch, eigentlich nur eine Abzweigung der deutschen Kultur ist. Das baltische Deutschthum soll Rasse, Religion, Sitte, Kultur alles verlieren, um in eine Sphäre einzugehen, die ihm eine andere Welt, eine Welt der Barbarei, des Aberglaubens und der moralischen Erniedrigung ist. Dennoch erhebt sich in Deutschland keine Stimme, ihm zu helfen. Die Schleswiger waren der verrathene Bruderstamm, die Balten läßt das neuerstandene Deutsche Reich, das sich rühmt, der mächtigste Staat der Erde zu sein, vor seinen Augen unter den Klauen des Tigers verbluten. Man thut nicht nur nichts dagegen, man schweigt auch dazu. Und das ist ja auch ganz richtig. Denn wenn man erst spräche, müßte man auch handeln, und handeln wäre der Krieg und der Krieg wäre der Weltkrieg. Soll Deutschland um der Balten willen den Weltkrieg entfesseln? Die Frage stellen, heißt sie beantworten. Niemand denkt auch nur daran, und da die Presse darüber schweigt, erfährt die große Masse der Deutschen kaum etwas von dem Leiden der Brüder.

Was soll es aber auch, höre ich rufen, und was sollen auch nur die Erwägungen über eine friedliche Abtretung? Rußland kann doch niemals zugeben, daß vier Tagesmärsche von seiner Hauptstadt die Grenze eines deutschen Bundesstaates und des Deutschen Reiches beginnt? Ganz richtig. So lange St. Petersburg Rußlands Hauptstadt bleibt, ist jeder solcher Plan eine Utopie. Aber wir haben ja in dem Vorhergehenden eine ganz neue Voraussehung geschaffen. Als Peter der Große die Hauptstadt von Moskau an den finnischen Meerbusen verlegte, that er unzweifelhaft einen richtigen Schritt. Hier war die einzige Stelle, wo Rußland in genügenden Kontakt mit Europa treten konnte, um allmählich selbst europäisirt zu werden. Damals endete Rußland im Süden noch in der Steppe, und den Nordrand des Schwarzen Meeres hatten Tataren unter türkischer Oberhoheit inne. Seitdem ist das Schwergewicht Rußlands mehr und mehr nach dem Süden verlegt worden. Kommt nun noch Kleinasien und Konstantinopel hinzu, so ist St. Petersburg als Hauptstadt nicht mehr praktisch, kaum noch

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