ÀҾ˹éÒ˹ѧÊ×Í
PDF
ePub

Heinrich Hart. Julius Hart.

Kritische Waffengänge.

Erftes Beft.

Wozu, Bogegen, Wofür?

Der Dramatiker Heinrich Kruse.

Leipzig

Verlag von Otto Wigand.

[blocks in formation]

Wozu, Wogegen, Wofür?

Der 22. März des Jahres 1832 war für die deutsche Literatur ein Wendetag, sie durfte sich die Frage stellen: Sein oder Nichtsein? Wie spielend hatte der Olympier, der an diesem Tage das hohe Haupt zur Ruhe legte, die Welt der Dichtung aus den Angeln gehoben und ihr eine Bahn gewiesen, die kein Horoskop, kein Scharfblick voraussehen konnte. Was war, was galt die deutsche Poesie vor Goethe, eine schüchterne Magd ging sie von Haus zu Haus und zehrte von den Brosamen, die fremder Reichthum ihr spärlich zuwarf, niemand ahnte die Schönheit, die unter dem ärmlichen Kleide sich barg, und sie selbst am wenigsten.

Goethe nennt sich irgendwo den Befreier der deutschen Dichter; ja, er war es, wie ein Heiland erschien er unter uns und vollendete das Erlösungswerk, das Klopstock, Lessing und Herder begonnen hatten. Woher hatte Goethe die Sprache, die mit einem Male im Göz und Werther so frisch wie ein Bergquell, so kräftig wie Morgenwind im Walde rauschte, war das die Sprache, in welcher vor kurzem noch Gottsched und Gellert hüstelten! Seit der ehrliche Simplex Einsiedler geworden, hatten die Deutschen diese Mundart verlernt, denn es war die Mundart des Volkes, und wer dachte an's Volk, wenn es Verse zu schmieden und Aesthetik zu schwitzen galt. Was nun, fragten die Armen, als Lessing mit eisernem Kehraus die Unfehlbarkeit Voltaire's zerfegte, als Herder das Volkslied ent= deckte, was nun? Goethe gab ihnen die Antwort in den Liedern aus Sesenheim, im Werther, im Faust; da quälte sich nicht mehr der Herren eigner Geist, da jauchzte die entfesselte Seele des Volkes und das Menschliche im Menschen fand die Sprache wieder.

Seltsamer Weise jedoch verließ Goethe selbst, noch ehe der Faust zu Ende geführt, diese siegreich eingeschlagene Bahn seiner Sturm- und Drangpoesie. Der Weimarische Minister fand keine Befriedigung mehr in der Eigenthümlichkeit und Tiefe des nationalen Geistes, welchen der Sieg bei Roßbach jählings aus langem Schlummer aufgerüttelt hatte, und er dichtete, berauscht von der klassischen Formschönheit der Antike seine Iphigenie, um eine Verbindung zwischen zwei so grundverschiedenen Volksnaturen, wie der hellenischen und germanischen, zu vermitteln. Der Dämon der Goethe'schen Dichtung hat hier geleistet, was zu leisten war. Eine gewisse Vereinigung ist erzielt, aber es ist keine Einigung, welche neues Leben und neuen Geist zu gebären vermochte. Unser Volk ist kein heiteres, weltseliges Geschlecht wie das griechische, unsre Kämpfe entscheiden nicht zwischen Häßlich und Schön, sondern zwischen Gut und Bös, unsre Weltanschauung ist keine optimistische, wie die der Hellenen und unser Ideal ist nicht das alo9óv, das Geziemende, die Harmonie des Formalen, sondern die Liebe, die ins Innerste der Creaturen hinabsteigt und auch das Elend, auch das Siechthum zu verklären weiß. Von jeher hatte der germanische Geist an dem Irdischen kein Genüge, das Vollkommene lag ihm oberhalb der sichtbaren Welt und die Sehnsucht, nicht der Genuß, nicht die Befriedigung, ist daher das Blut seines Empfindens. Diesen Zug hat die christliche Religion, welche dem rein innerlichen Semitenthum entsprungen ist, noch vertieft und verstärkt und so muß jede Dichtung, welche unser Leben erfüllen will, in ihm wurzeln.

Ist das aber der Fall, dann hat unsre Literatur nicht die Aufgabe, die Antike in die moderne Poesie hinüberzuretten, sondern sie zu überwinden, dann soll sie nicht den jungen Most in alte Schläuche, die modernen Ideen nicht in klassische Form gießen, sondern aus sich selbst heraus alles sein, neuer Gehalt, neues Gefäß. Was die Hellenen Großes hinterlassen, das hat keinen andern Werth für uns, als die Schöpfungen des Orients oder als die reichen Schäße, welche die bisherige Culturentwicklung der jüngeren Völker Europas an= gehäuft, alle drei müssen uns Schulen sein geistiger Gymnastik, seelischer Vertiefung und umfassender Idealität, aber das ist etwas anderes, als Nachahmung, als Wiedererweckung, als Verschmelzung.

Jene Schulen hat der Dichter des Faust durchgemacht und einen Weg gebahnt, auf dem es wol verlohnte weiterzuwandeln, diese Verschmelzung versuchte der Schöpfer der Iphigenie, deshalb ist der erste Theil des Faust in Fleisch und Blut der Nation übergegangen, während die Iphigenie uns wie ein hohes Wunderbild gegenübersteht, mehr zur Verehrung, als zur feelischen Aneignung geschaffen.

Von der Iphigenie an datirt denn auch ein steter Zwiespalt, ein beständiges Schwanken in dem poetischen Schaffen Goethe's (ein Zwiespalt, dem wir die holprige Form des herrlichsten Idylls, ich meine Hermann und Dorothea, zu danken haben), nicht wie in der Jugend drängt er die Wellen schwimmend vor sich her, sondern er läßt sich tragen bald hierhin, bald dorthin. Und jenes Schwanken ist seitdem epidemisch geworden in unsrer Literatur. Heute zogen die Romantiker das Mittelalter aus der Rumpelkammer hervor und behängten es mit allerhand modischem Flitter und Prunk, am andern Tage glaubte Jungdeutschland, das wahre Heil bestehe in dem Singen und Sagen von Politik und socialer Reform, Morgens schwelgten Platen, Rückert, Daumer, Bodenstedt in den Offenbarungen der Perser und Indier, und Abends war man richtig wieder bei den Franzosen als den Musterleuten par excellence angekommen.

Nirgendwo ein starker, einheitlicher Zug, ein leuchtendes Band, das alle Erscheinungen verknüpft, nirgendwo ein organisches Wachsen aus einem festen Kern heraus, wie es jede große Literaturepoche kennzeichnet. So war es in den vergangenen Jahrzehnten und so ist es noch.

Ja, Wilhelm Scherer hat Recht, wenn er in seiner Geschichte der deutschen Literatur behauptet: „Wir selbst fühlen unmittelbar, wie die Nation aus den Idealen herauszuwachsen droht, welche zu Goethe's Zeit unsren Stolz und unsre Größe ausmachten ... Wir fliegen hoch und sinken um so tiefer." Oder gibt diese Verrohung des Stils, diese Sprache, welche bereits conventional erstarrt, dieses Ueberwuchern eines eklektischen Dilettantismus, diese Fluthwoge novellistischer Fabrikarbeit, dieses Haschen nach stofflichen Effekten, dieses um sich fressende Castratenthum der Kritik, diese maßlose

« ¡è͹˹éÒ´Óà¹Ô¹¡ÒõèÍ
 »